Der Regen, die Hitze, der überfüllte Zug, die Baustellen oder doch die löchrigen Strassen? Worüber haben Sie sich zuletzt beschwert? Beschweren ist zu einem Euphemismus geworden für motzen, moffeln und besserwissen. Politiker dürfen gar ungestraft lügen. Die Hälfte der Stimmberechtigten manch eines europäischen Landes hat genug von Experten – man glaubt, was man glauben will und was der eigenen Wahrheit entspricht. Wirklichkeit und Faktentreue rücken in den Hintergrund, und damit der Wille und die Fähigkeit, sich mit Tatsachen auseinanderzusetzen, welche die eigene Wohlfühlzone aus der Balance zu bringen drohen.
Was ist geworden aus dem «einig Volk von Brüdern», zu dem auch Schwestern gehören? Sind wir tatsächlich zu einem uneinig Volk von Besserwissern und Egoisten geworden? Der Blick auf jüngere Wahl- und Abstimmungsresultate legt die Vermutung nahe. Kurzsichtiges Denken und die Lust, denen, die vermeintlich das Sagen haben, den viel gerühmten Denkzettel zu verpassen, dominieren manch eine Entscheidungsfindung, die eigentlich überlegt, sachlich und frei von Emotionen passieren sollte.
Man mag anführen, dass es nicht verkehrt sein könne, wenn sich jeder Einzelne auf seine Stärken besinne, anstatt stets auf alle rundum Rücksicht zu nehmen – egal, ob Bürgerin oder Nation. Nur: Ist es überhaupt möglich, in einer Welt, die sich immer mehr vernetzt, sich selber noch ins Zentrum des persönlichen Weltbildes zu stellen? Apps wie Instagram oder Snapchat, die primär der Selbstdarstellung dienen, mögen dies suggerieren, der Selfie-Stick darf getrost als Zepter der neuen Generationen von Königinnen und Kaisern des Narzissmus betrachtet werden.
Nur: Mit Individualität hat das alles nichts zu tun. Denn letztlich sind es Phänomene wie diese, welche unsere gesellschaftliche und technische Vernetzung in sprichwörtlich atemberaubendem Tempo vorantreiben.
Wer innehält und um sich schaut, wird indes feststellen: Die eigenen Stärken wären heute gefragter denn je, Selbstverantwortung nötiger denn je, gesundes Selbstbewusstsein überlebenswichtig wie nie. Denn nur wer diese Eigenschaften auf sich vereinen kann, wird im Netz der Millionen nicht untergehen. Nur wer die Kraft aufbringt, auch einmal ein paar Meter gegen den Strom zu schwimmen, bleibt fit, um sich den täglich neuen Herausforderungen zu stellen. Und nur wer fit ist, erkennt, wenn plötzlich so viele vermeintliche Individualisten gegen den Strom schwimmen, dass sie selber zu einer träge und einheitlich fliessenden Masse werden.
Erstmals publiziert 16. August 2016 als "StaTTgeflüster" im Thuner Tagblatt
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